«Das Spiel mit den Kräften fasziniert mich.»

Was kommt Ihnen beim Wort «Energie» in den Sinn?

Wo soll ich anfangen? Alles, was mich fasziniert und beschäftigt, ist ein Energiethema. Skifahren ist eine der wenigen Sportarten, in welchen die primäre Kraft oder Energie nicht die ­eigene ist. Ein Sprinter bewegt sich aus eigenem Antrieb, aber ein Skifahrer wird von der Gravitation angetrieben. Du musst versuchen, die Kraft zu beherrschen, die immer grösser ist als du. Dieses Spiel mit den Kräften fasziniert mich auch beim ­Fliegen. Und in der Physik dreht sich sowieso alles um Energie.

Im Sommer 2018 haben Sie an der ETH Zürich den Bachelor in Physik abgelegt. Können Sie sich nach Ihrer Karriere im Sport auch eine wissenschaft­liche Karriere vorstellen?

Um das gleich zu sagen: Ich fühle mich nicht als Physikerin. Ich habe den Bachelor gemacht an der ETH, das ist der erste Minischritt auf dem Weg. Schon kurz nach meinem Rücktritt ein Physikstudium zu beginnen, war vielleicht nicht
meine cleverste Idee. Ich dachte, den ganzen Tag sitzen und studieren, das ist easy, das kann ich in der Endlosschlaufe. Aber nein! Als der Professor in der ersten Vorlesung sagte, wir müssten mit 60 Stunden Aufwand in der Woche rechnen, schoss mir durch den Kopf: niemals! Nach vier Wochen habe ich dann gezählt und bin auf locker 60 Stunden gekommen. Das war schon intensiv mit allen anderen Verpflichtungen. Ich habe das Studium dann aber regulär durchgezogen. Und jetzt nach einem halben Jahr «Studiumspause» hätte ich schon Lust, den Master anzufangen. Aber wie im Sport muss es einen auch für eine wissenschaftliche Karriere richtig packen.

Haben Sie schon Ideen für so ein packendes Thema?

Es gibt zwei Bereiche, die mich sehr interessieren. Über den einen habe ich schon meine Bachelorarbeit geschrieben: Schnee. Schnee ist eine komplexe Materie und auch noch nicht so tief erforscht. Weil es auch sehr schwierig ist, damit zu arbeiten. Forschen mit Schnee ist grausam! Er verändert sich permanent. Und das andere Thema ist Aviatik.

Bleiben wir kurz beim Fliegen. Könnten Sie sich vorstellen, ein E-Flugzeug zu steuern?

Ja, unbedingt. Es gibt jetzt viele Entwicklungen in diese Richtung. Aber nicht nur beim Elektroantrieb gibt es in der Fliegerei viel Verbesserungspotenzial. Ein Flugzeug hat weniger Reibungswiderstand und muss im Grundsatz effizienter sein als ein Auto oder ein Zug. Alles andere wäre unlogisch. Ich habe ­ausgerechnet, dass ich für den Weg ins Tessin mit dem Kleinflugzeug weniger Treibstoff brauche als mit dem Auto, weil die Strecke gerade und damit kürzer ist. Und weil die heutigen Leichtflugzeuge schon viel weniger Treibstoff brauchen. ­Trotzdem: Da ist immer noch viel Potenzial.

Hat sich mit dem Studium Ihr Verhältnis zur Energie verändert?

Ja, sicher. Aber nicht nur das. Das Studium hat mein Denken und die Art, wie ich argumentiere, generell verändert. An der ETH wird dir ausgetrieben, zu sagen: Das ist halt so, das sieht man doch. Ich habe gelernt, Fakten in die Tiefe
zu verfolgen und logisch zu begründen. Bezüglich Energie ist aus meiner Sicht unbestritten, dass unser Umgang mit Energie und der Klimawandel die grössten Herausforderungen unserer Zeit sind. Aber ich bin nicht pessimistisch. Ich sehe keinen Grund, warum die Forschung keine Lösung finden soll – wenn sie genug Mittel und Zeit bekommt. Dafür müssen wir Energie sparen und langfristig neue Energiequellen finden, die das Klima weniger belasten. Da sind die künftigen Physikerinnen und Physiker gefordert.

Die Klimadiskussion hat auch den Skirennzirkus erreicht. War das zu Ihrer aktiven Zeit ein Thema?

Logisch war der Klimawandel schon früher ein Thema. Man kann die Veränderungen nicht ignorieren, wenn man diese ­ständig in seiner Arbeit sieht. Jedes Jahr gehst du auf denselben Gletscher und der ist wieder etliche Meter kürzer. Seit ich den Europacup gefahren bin, kann man auf acht Gletschern in ­Europa im Sommer nicht mehr trainieren. Früher war das im Juli möglich, heute frühestens im Oktober. Noch 2006 sind wir den ganzen Sommer in Engelberg gefahren. Das ist heute undenkbar.

Wie geht man als Sportler mit Höhen und Tiefen um?

Das macht jeder anders. Ich bin wahrscheinlich eine Art Chamäleon. Wenn ich merke, dass ein Weg abgeschnitten ist oder eine Tür zugeht, dann beschäftigt mich das eine Zeit, aber nicht lange. Viel interessanter finde ich, wo es jetzt hingeht. Auch wenn mein langfristiges Ziel im Sport immer gleich geblieben ist, hat sich der Weg dorthin tausendmal geändert. 2015 hatte ich alles auf die WM ausgerichtet. Alles hat gepasst. Und dann verletzte ich mich aus dem Nichts! Auf dem Heimweg habe ich nur gewusst, dass ich meine Karriere nicht im Krankenbett beenden will. Mir war klar, dass das keine Megasaison mehr wird. Aber ich habe in allen Disziplinen nochmals eine Top-10-Platzierung erreicht. Das war für mich, nach allem, was passiert ist, ein schöner Abschluss.

Heute sind Sie Delegierte des Stiftungsrates der Schweizer Sporthilfe und unterstützen ­Athletinnen und Athleten. Woran erkennt man, dass ein junger Mensch das Potenzial hat, es ganz nach oben zu schaffen?

Erst stellen die Sportverbände oder Swiss Olympic fest, dass ­jemand unterstützungswürdig ist. Dann prüfen wir, ob auch ein finanzieller Bedarf besteht. Wir unterstützen niemanden, der sich selber finanzieren kann, sondern nur die Athletinnen und Athleten, die sonst mit ihrer Sportart nicht über die ­Runden kämen. Viele Athletinnen und Athleten beenden ihre Karriere mit Schulden. Das finde ich nicht okay. Diese Athleten geben alles und vertreten unser Land. Das verdient, dass sie eine Lebensgrundlage haben. Die besten Indikatoren, um zu beurteilen, ob es jemand an die Spitze schaffen kann, hat mir mein Mentalcoach mitgegeben: Wie gross ist das Feuer, das jemanden antreibt? Und wie schnell kann der Mensch das in Leistung umsetzen? Das gilt natürlich nicht nur im Sport, sondern auch in der Kultur und der Forschung.

Was macht man, wenn man sieht, dass es jemand schaffen könnte, aber es «falsch anpackt»?

Da muss ich mich immer sehr beherrschen. Ich habe den Drang, Input zu geben. Natürlich vor allem im Skisport. Da spielt sicher mit, dass mein Weg nicht immer geradlinig verlaufen ist. Ich habe fast jede Situation schon einmal erlebt. Aber nur weil bei mir etwas funktioniert hat, muss das bei jemand anderem nicht so sein. Ich sage nie: «Mache es so oder so.» Sondern: «Hast du dir schon mal überlegt, warum ...?» Es zeichnet ­Topathletinnen und -athleten aus oder überhaupt Leute, die an der Spitze sind, dass sie permanent an sich selber arbeiten und Lösungen suchen. Deshalb versuche ich, Inputs immer als Denkanstösse zu vermitteln.

Was sind Ihre persönlichen Energiequellen?

Skifahren ist immer noch ganz weit oben. Und überhaupt viel Bewegung und in der Natur zu sein. Das hat mir am meisten zugesetzt im ersten Jahr an der ETH: die Hörsäle ohne Fenster. Sonst sind es kleine Sachen: im Auto oder im Zug sitzen und Musik hören. Das ist gut, weil ich sehr viel reisen muss. Und Zeit, in der einfach nichts geplant ist. 


Dominique Gisin ist Olympiasiegerin in der Abfahrt von Sotschi 2014 und Delegierte des Stiftungsrates der Stiftung Schweizer Sporthilfe.


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