«Lebensstile brauchen Überfluss.»

Prof. Dr. Jörg Rössel ist Direktor des Soziologischen Instituts der Universität Zürich und Mitglied des Nationalen Forschungsrats beim Schweizerischen Nationalfonds.

Herr Professor Rössel, was versteht die Soziologie unter Lebensstilen?

Die soziologische Forschung zu Lebensstilen beruht auf der Vorstellung eines gesellschaftlichen Wandels: von der Knapp­heitsgesellschaft hin zur Erlebnisgesellschaft, in der ein relativ grosser Teil der Bevölkerung in beachtlichem Wohlstand lebt und aus einer Vielzahl von Konsumalternativen wählen kann. Damit ändert sich auch, wie die Bevölkerung dieser Ge­sellschaften beschrieben wird. Wenn die Knappheit von Gütern das dominante Merkmal ist, wird die Gesellschaft anhand sozio­ökonomischer Kategorien wie Klassen oder Schichten be­schrieben. Mit dem Wandel zur Überflussgesellschaft verlieren die Klassen­ oder Schichtenzugehörigkeiten an Relevanz für die Identität von Personen und die Gruppenbildung. An ihre Stelle treten frei gewählte Milieus oder Lebensstile, so die These vieler Lebensstilforscher. Dabei liegt der Fokus der Lebens­stilforschung meist auf ästhetischen Fragen: Wie kleiden sich Menschen? Welche Musik hören sie? Was essen sie? Wie richten sie ihre Wohnung ein?

Und was versteht man genau unter einem Lebensstil?

Lebensstile sind Verhaltensmuster, also Bündel einzelner Verhaltensweisen. Zu einem «Stil» werden sie aber erst, wenn diese Verhaltensmuster zusammenpassen und stabil, sozu­ sagen Verhaltensroutinen, gar Teil einer Identität, sind. Zudem müssen sie Ausdruck zu grundeliegender Orientierungen sein, zum Beispiel religiöser oder ästhetischer Einstellungen. Und drittens müssen diese Verhaltensmuster für andere Perso­nen erkennbar sein.

Wie verändern sich Lebensstile?

Im letzten Jahrhundert gab es in unserer Gesellschaft eine Zunahme von Lebensstilen, die vor allem an Spannung, Abwechslung, Action-orientiert sind. Das ist ein Wohlstandsprodukt, aber auch das Ergebnis der starken Angebotsdifferenzierung. Zum biografischen Wandel von Lebensstilen einzelner Personen gibt es nicht viel Forschung. Ich vermute also nur, dass Men­schen in ihrer Kindheit und Jugend viele dieser Orientierungen erwerben. Und diese bleiben relativ stabil.

Können sich diese Grundeinstellungen auch plötzlich und in grossen Teilen der Gesellschaft durch einschneidende Ereignisse verändern?

Ich bin skeptisch, ob Einzelereignisse zu signifikanten Brüchen führen. Gesellschaftliche Strukturen reagieren extrem träge. Und es ist fraglich, wie stark ausgeprägt und dauerhaft eine sol­che Veränderung wäre.

Was hält uns davon ab, unseren Lebensstil selbst zu ändern?

Wie meist sind es Kosten – Geld, Zeit, Mühe – oder Einbussen beim Nutzen. Ein ehemaliger Kollege an der ETH, Umwelt­ soziologe Andreas Diekmann, hat in seinen Untersuchungen immer wieder festgestellt, dass etwa Umweltorientierungen nur dann unser Verhalten erklären, wenn der Aufwand nicht zu gross ist, der mit einer bestimmten Verhaltensweise verbunden ist.

Was bringt uns die Erforschung von Lebensstilen im Zusammenhang mit Energie?

Lebensstile sind immer mit Konsum verbunden. Wenn ich mich in einer bestimmten Weise kleide und damit meinen Lebensstil zum Ausdruck bringe, dann konsumiere ich offensichtlich. Auch beim Joggen brauche ich mindestens entsprechende Lauf­schuhe. Wenn Sie Musik hören wollen, streamen Sie vielleicht einen Song. Konsum ist also nicht nur der Bezug von Gütern über den Markt, sondern auch deren Nutzung und Entsorgung.

Das leuchtet ein. Aber warum befasst sich die Energieforschung mit Lebensstilen?

Als Soziologe kann ich mir zum Beispiel die Konsumbereiche mit dem grössten Energieverbrauch genau ansehen: Wie viel Energie verbrauchen Menschen mit ihrem Mobilitätskonsum? Mit ihrem Wohnkonsum? Mit ihrem Ernährungskonsum?

Dabei betrachte ich die Menschen und ihr Verhalten nicht iso­liert, sondern bündele ihre Konsummuster bzw. Lebensstile. Wenn ich etwa eine Gruppe mit einem sehr aufgeklärten Konsumverhalten finde, sehe ich diese nicht näher an – oder besonders gründlich, um zu erklären, warum sie sich so verhält. Anders als für die Lebensstilforschung ist es für die Energie­forschung aber vollkommen unerheblich, ob jemand mit dem Auto in die Stadt fährt, um in die Oper oder in ein Metal­ Konzert zu gehen – der Energieverbrauch zählt.

Immer mehr Menschen verbrauchen nicht nur Energie, sondern produzieren diese selbst. Ist diese Entwicklung für die Lebensstilforschung von Interesse, weil «Prosumer» möglicherweise ihre Einstellung zum Energiekonsum und damit auch ihr Verhalten ändern?

Der Zusammenhang müsste sein: Wenn ich weiss, wie mühevoll es ist, Energie zu erzeugen, gehe ich sparsamer damit um.

Es kann aber auch ganz anders sein: Wenn ich meine Energie selbst erzeuge, kann ich auch selbst entscheiden, wie ich diese verbrauche. Natürlich hat Wissen einen Effekt auf mein Ver­halten, aber der wird meiner Meinung nach überschätzt. Nur zu wissen, dass etwas gesund ist oder wie man Energie spart, führt bei den meisten Menschen nicht zu einer grösseren Verhal­tensänderung. Die Menschen machen oder lassen etwas nicht, weil sie wissen, dass es gut oder schlecht ist.

Warum tun wir uns trotz immer mehr Wissen, was richtig und was falsch ist, so schwer, uns entsprechend zu verhalten?

Weil viele Verhaltensweisen Routinen sind, die man nicht ohne Weiteres ändert. Und das hat in der Regel etwas mit unserer Identität zu tun. Da wird die Lebensstilidee wieder relevant, die besagt, dass Konsumentscheidungen nicht einfach vom Wis­sen über bestimmte Konsequenzen von Handlungsalternativen abhängen. Den Ausschlag gibt, was dieses Verhalten für mich, meine Identität, Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung zu anderen Menschen bedeutet. Anders gesagt: Wenn es stimmen würde, dass Menschen, die etwas von Energieerzeugung ver­stehen, sorgsamer mit Energie umgehen, dann müssten alle Ingenieure diese Energiesparorientierung haben. Ich kenne zwar keine Studie dazu, vermute aber, dass wir auch bei Ingen­ieuren das gesamte weltanschauliche Spektrum finden wie in der restlichen Gesellschaft. Und ich vermute, dass sie diese Orientierungen schon entwickelt haben, bevor sie diese Berufe ergriffen haben.

Wenn diese Orientierungen so fest verankert sind, dass weder mehr Informationen noch eine Fachausbildung noch eine eigene Photovoltaik-Anlage diese per se erschüttern können, wie kann ich dann die Menschen zu einem bewussteren Umgang mit Energie bewegen?

Ich sehe zusätzlich zu den bisherigen Vorschlägen zwei grund­sätzliche Wege: Um etwas neu oder anders zu machen, brauchen die Menschen Anreize. Das können Belohnungen, aber auch Strafen sein. Das funktioniert, auch wenn sie nicht wirklich davon überzeugt sind. Der zweite Weg ist, den Spass an einem bestimmten Verhalten zu entwickeln. Und auch Spass kann man «lernen». Die meisten Kinder wandern nicht gerne. Trotzdem gehen heute viele 25-­Jährige Wandern. Ein anderes Beispiel: Wein, den Weinexperten empfehlen, finden viele Menschen nicht besonders gut. Weil sie diese Art von Genuss nicht gelernt haben. Das ist in vielen Bereichen so – auch beim Umgang mit Energie. Ein Energiebewusstsein ist gesellschaft­lich gesehen, mindestens in der heutigen Form, ein relativ junges Phänomen. Wir müssen die Dinge erst einmal auspro­bieren, uns schulen, um dann Spass daran zu haben.


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