Jüngste Statistiken zeigen, dass die Schweiz ein immer noch hoch motorisiertes Land ist. Sowohl im kollektiven Bewusstsein als auch im Verhalten der Bürger zeichnen sich jedoch erste Veränderungen ab.
Punkto Abfallrecycling ist die Schweiz weltweit vorbildlich. Wie es aussieht, gilt das aber nicht für den Autoverkehr. Der Motorisierungsgrad unseres Landes liegt über dem europäischen Durchschnitt; vor allem die hierzulande so beliebten PS-starken Oberklasseautos erweisen sich als besonders umweltbelastend.
Jenseits der Statistiken und des ersten Anscheins hat sich das Verhältnis zum Privatauto in den letzten Jahren allerdings deutlich verändert. «Mehr als die Hälfte der Haushalte in Grossstädten wie Zürich, Basel oder Bern besitzt kein Auto», sagt Patrick Rérat, Mobilitätsexperte und Professor am Institut für Geographie und Nachhaltigkeit (IGD) der Universität Lausanne. «Dass die Gesamtzahl der Fahrzeuge in den letzten Jahren gestiegen ist, liegt vor allem am Bevölkerungswachstum. In den grossen urbanen Zentren hat dagegen der Motorisierungsgrad in den letzten fünfzehn Jahren spürbar abgenommen.»
Weltmeister im Bahnfahren
Gleichzeitig hat die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zugenommen. Hinsichtlich der pro Einwohner zurückgelegten Bahnkilometer ist die Schweiz sogar weltweit führend. «Im Bereich der sanften Mobilität, also bei den zu Fuss oder per Velo zurückgelegten Kilometern, schneidet die Schweiz nicht ganz so gut ab», stellt Patrick Rérat fest. «Aber auch hier sind vor allem in den Städten grosse Fortschritte zu beobachten. In Zürich haben sich die Velofahrten zwischen 2010 und 2015 von sechs auf zwölf Prozent verdoppelt! » Der Anteil der Carsharing-Systeme wächst seit rund zwanzig Jahren kontinuierlich. «Man kann sagen, dass die Schweiz in dieser Hinsicht zu den fortschrittlichsten Ländern der Welt zählt», sagt Francesco Ciari, einer der Forschenden, die im Rahmen des NFP 71 am Projekt «Teilen ist Sparen» arbeiteten. «Mobility Carsharing bietet mit schweizweit 1500 Standorten ein sehr engmaschiges Netz. Ansonsten entstehen Mobilitäts-Sharing-Systeme aber im Wesentlichen in den Städten.»
Die Genossenschaft Mobility Carsharing besitzt aktuell eine Flotte von 3000 Autos und hat mehr als 130 000 Kunden. Nach Auskunft des Betreibers können damit 31 000 Privatautos und 46 500 Parkplätze eingespart werden. «Unsere Studien haben ergeben, dass sich alle Formen des Carsharings, ob in Mitfahrgemeinschaften oder in Selbstbedienung, positiv auf den Energieverbrauch auswirken», betont Friedel Bachmann, der im Rahmen des NFP 71 zum Thema «Kollaborativer Konsum: Hype oder Versprechen?» forscht. In der Schweiz haben Carsharing-Modelle weiterhin ein grosses Wachstumspotenzial. Warum entscheiden sich also nicht noch mehr Menschen für diese Angebote? «Gemäss unserer Beobachtung spielt der Faktor Kostenersparnis keine grosse Rolle. Der Nachahmungseffekt unter Gleichgesinnten sowie die Sichtbarkeit dieser Dienstleistungen dürften deren Verbreitung dagegen beflügeln.»
Francesco Ciari hält fest, dass die Schweiz ein Land mit hoher Wirtschaftskraft und einem sehr engmaschigen öffentlichen Verkehrsnetz ist. «Ein Problem besteht darin, dass es so einfach ist, sich ein Auto anzuschaffen – vor allem, wenn man es least. Haben die Leute erst einmal ihr eigenes Auto, geben sie es nicht so schnell wieder her …» Ein grosses Potenzial für Carsharing-Modelle bestünde aber vor allem im Ersatz des Zweitwagens. «Allein damit liesse sich die Gesamtzahl der Fahrzeuge schon beträchtlich reduzieren», sagt Friedel Bachmann. «Alle diese Entwicklungen brauchen jedoch Zeit. Das ist eine Frage der Verhaltensänderung und des Generationenwechsels. »
Eine autozentrierte Gesellschaft
Eine Studie des Swiss Competence Center for Energy Research – Efficient Technologies and Systems for Mobility (SCCER Mobility) kommt zum gleichen Schluss, wonach alte Gewohnheiten den Wandel auch dann noch bremsen werden, wenn bereits neue Technologien verfügbar sind.* Dass sich das Privatauto nicht so leicht durch andere Formen der Mobilität ersetzen lässt, hat auch mit den Vorteilen zu tun, die es bietet: «Das Auto macht die Menschen flexibel und autonom», räumt Patrick Rérat ein. «Obwohl es mitunter 95 Prozent des Tages nur steht, gibt es uns die Sicherheit, jederzeit mobil zu sein. Das Auto ist mehr * Towards als ein Fortbewegungsmittel: Seit einem Jahrhundert steht es im Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung. Unsere gebaute Umwelt, unsere Wirtschaft und unser Leben sind auf das Auto ausgerichtet. Das System ‹Auto› ist allgegenwärtig und erscheint uns daher als ganz natürlich. Das ist uns gar nicht mehr bewusst. Aber in den Städten sind bestimmte Flächen zugunsten des Autoverkehrs verschwunden. Ich denke da vor allem an die Strasse, die sich von einem Ort der Kommunikation, des Spiels und der Begegnung zu einer reinen Verkehrsfläche entwickelt hat.»
Im Rahmen des Projekts PostCar-World wurden Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Verhältnis zum Auto befragt. Dabei hat sich gezeigt, dass sich die Mehrheit der Befragten durchaus der Probleme, vor allem des zunehmenden Verkehrs und der Emissionen, bewusst waren – «auch die ‹Autobefürworter›», sagt Monique Ruzicka-Rossier, die Koordinatorin des Projekts. «Besonders auffällig sind aber die Unterschiede zwischen den Generationen. Für die meisten Unter-35-Jährigen ist das Auto kein Statussymbol mehr, sondern nur ein Mobilitätsservice unter vielen. Es weckt nicht mehr die gleichen Emotionen wie früher. Diese Generation nutzt eine ganze Palette von Fortbewegungsmitteln, um von A nach B zu kommen, und nimmt darüber hinaus Hauslieferdienste in Anspruch. Auch markiert der Erwerb des Führerscheins nicht mehr den Eintritt ins Erwachsenenalter – er ist einfach nur eine Formalität.» Für die Über-45-Jährigen hat das Auto dagegen weiterhin eine zentrale Bedeutung: «Viele wissen gar nicht, wie sie ihren Alltag ohne Auto organisieren sollen. Sie kennen sich mit den anderen Mobilitätsangeboten nicht wirklich aus.»
Lebensqualität hat höchste Priorität
Wie mehrere Studien gezeigt haben, können sich inzwischen aber alle Generationen vorstellen, den Besitz eines Privatautos zu überdenken. «Den Menschen kommt es vor allem darauf an, ihre Lebensqualität zu behalten», erklärt Monique Ruzicka-Rossier. Alles – Natur, städtische Dienstleistungen, Freizeitmöglichkeiten und der Arbeitsplatz – soll schnell erreichbar sein. Wird den Menschen auch ohne Auto die gleiche Lebensqualität geboten, sind viele bereit, auf ihr Privatfahrzeug zu verzichten.»
Aber wie erreicht man eine ähnlich hohe Lebensqualität ohne Auto? «Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft in Zukunft ganz ohne das Auto auskommt», präzisiert Patrick Rérat. «Um den Einfluss der Privatautos zu verringern, braucht es eine Kombination leistungsfähiger Mobilitätsangebote sowie eine intelligente Raumordnungspolitik.» Dies setzt jedoch ein neues politisches Bewusstsein voraus: den Wandel von einer auf das Auto zentrierten zu einer dienstleistungsorientierten Gesellschaft.
Weniger Privatautos
Ganz allgemein könnte der Staat eine wichtige Rolle spielen, indem er insbesondere durch verschiedene Steueranreize dafür sorgt, dass die Zahl der Fahrzeuge sinkt. Das denkt auch Simon Lüchinger. Der Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Luzern leitete das Projekt «Steueranreize für eine Senkung des Energieverbrauchs » im Rahmen des NFP 71: «Die externen Kosten der individuellen Mobilität – etwa die des Klimawandels oder der Verkehrsüberlastung – werden aktuell nicht von den Autofahrern bezahlt, sondern von allen Bürgern. Wenn das Steuersystem dafür sorgen würde, dass die Autofahrer diese Kosten tragen, würde die Zahl der Privatautos sicherlich sinken.»
Könnte das selbstfahrende Auto die Lösung sein? Friedel Bachmann hält es für möglich, dass diese Technologie dem Carsharing deutliche Zuwächse beschert: «Aber dazu müsste man wissen, wann diese Technologie tatsächlich verfügbar ist, und vor allem müssten noch einige juristische und ethische Probleme geklärt werden.» Für Patrick Rérat könnte das selbstfahrende Auto theoretisch dafür sorgen, dass die Gesamtzahl der Fahrzeuge in der Schweiz abnimmt, «sofern es sich nicht um Privatautos handelt. Denn in diesem Fall würde sich die Situation sogar verschlechtern, da der Auslastungsgrad der Fahrzeuge unter die Marke von eins fiele! Hinter dem Konzept stehen noch viele Fragen. Man verkauft uns ein ‹ Mobilitätsideal›, das aber die wichtigen anderen Wahlmöglichkeiten der Gesellschaft nicht in den Hintergrund drängen sollte».
Forschungsprojekte:
Kollaborativer Konsum: Hype oder Versprechen? (NFP 71)
Teilen ist Sparen (NFP 71)
Steueranreize für eine Senkung des Energieverbrauchs (NFP 71)
* Towards an Energy Efficient and Climate Compatible
Future Swiss Transportation System. SCCER – Mobility 2017
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