Das erste Kino der Welt hat ein geschätztes Alter von 17 000 Jahren: die Höhle von Lascaux im Südwesten Frankreichs. Im flackernden Licht werden dort Szenen aus Verfolgungsjagden gezeigt, schon damals in Farbe. Die steinerne «Leinwand» ist sogar gewölbt, beinahe 3-D. IMAX also. Aber Unterhaltung war vielleicht nicht zuoberst auf dem Programm. Anthropologen meinen, solche Szenen hätten der Jagdvorbereitung gedient. Man liess sich in die Jagd hineinversetzen, und Adrenalin pumpte durch den Körper, obwohl man in Sicherheit war. Warum? Die Kraft einer gut erzählten Geschichte besteht darin, dass unser Unterbewusstsein nicht genau zwischen dem Realen und dem Imaginären unterscheidet. Für mich ist klar: Kino war das. Vielleicht sogar mit Popcorn.
Was haben Energie und Fantasie miteinander zu tun? Wenig auf den ersten Blick, viel auf den zweiten. Wurden die besten unter den alten Geschichten nicht am gemeinsamen Feuer erzählt, der wohl archaischsten Form von Energie? Und aus dem Feuer stammen die oxidierten Steine, mit denen unsere Vorfahren an die Felswände malten – ihre Geschichten fixierten. Die Fiktion ist so alt wie das Feuer.
Rücken wir eine zweite archaische Energiequelle in den Fokus: die menschliche Muskelkraft. Gekauft und verkauft auf dem Sklavenmarkt prägte sie das damalige Menschenbild und den Wert unserer Spezies (als «erneuerbare Energie»). Es ist der menschlichen Kreativität zu verdanken, dass Alternativen zu dieser menschenerniedrigenden Ausbeutung gefunden wurden, allen voran: Wind und Wasserkraft. Bereits vor Christus trieben Wind und Wasser über grosse Räder erste Mühlsteine an, eine Arbeit, an der Sklaven zugrunde gegangen sind. Trotz ihres Potenzials, das Leben zu erleichtern, fanden diese beiden Erfindungen aber kaum Verbreitung. Lang, lange lagen sie brach.
Diesen erstaunlichen Umstand erklärt der indische Philosoph Vishal Mangalwadi in seinem «Buch der Mitte»: Zwar kannte die antike Welt viele technische Errungenschaften, setzte diese aber nicht breit um, da die nötige Rahmenerzählung (Weltanschauung) oder das damit verbundene Menschenbild fehlte. Es gab keinen Bedarf, dem menschlichen Wesen die mühselige Arbeit zu erleichtern, denn zum Schuften ist es verdammt. Es brauchte ausgerechnet das biblische Narrativ des Sündenfalls, um den Fluch der mühseligen Arbeit zu lindern und alternative Energie anzuzapfen.
In meines Vaters Indien sind Götter typischerweise Tänzer oder Träumer. Im Gegensatz dazu ist der biblische Schöpfer ein «Arbeiter». Arbeit an sich war also biblisch gesehen etwas Gutes. Was sich nach dem Sündenfall änderte: Arbeit wurde zur Mühsal. «Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen ...» Nun war der Mensch ursprünglich nicht für Mühsal gedacht.
Und wenn Christus den Fluch des Sündenfalls am Kreuz wettgemacht hatte, sollte man doch auch vom Fluch der Mühsal frei werden können. Das war die Motivation christlicher Mönche, als sie im 11. Jahrhundert monotone Arbeit an Wind und Wassermühlen delegierten. Die Konsequenz? Der Mensch wurde für kreativere Arbeiten freigesetzt. Fand Zeit für Beobachtungen der Natur. Entwickelte weitere Arbeitserleichterungen. Investierte in Kunst und Kultur. Kennen wir diesen Freiraum noch? Oder hat das Diktat der «Gewinnmaximierung» bereits wieder unbedingten und exklusiven Anspruch auf die menschliche Arbeitskraft?
Einerseits wird in der Arbeitswelt immer mehr Leistung gefordert. Andererseits treiben unvorstellbare Automatisierung und Artificial Intelligence den Traum der Mönche zum Äussersten. In wenigen Jahren könnten bis zu 800 Millionen Jobs verloren gehen. Nun, da das Delegieren der Arbeit ad absurdum geführt wird, stellt sich zunehmend die Sinnfrage. Sinn ist eine Frage der Rahmenerzählung. Aber nicht jede Geschichte führt zu Erfolg. Bleibt uns Energie für wahren Fortschritt, oder werden wir, Matrix-ähnlich, zu den «Batterien» einer robotisierten militärisch-industriellen Welt – Sklaven ohne Arbeit quasi?
Das lateinische Wort für «Buch» und «frei» ist dasselbe: liber. Die Sklaverei wurde in den USA erst abgeschafft, nachdem ein Buch, «Onkel Toms Hütte», zum Bestseller wurde. Dieses fiktive Werk von Harriet Beecher Stowe schaffte, wozu die Politik nicht imstande war. Keine Energiewende also ohne die Geschichte eines Atomunfalls.
Kernenergie ist übrigens ein gutes Bild für uns Menschen. Sofern man Zugang zum Kern seines Menschseins hat, steckt in uns unendlich viel mehr Energie, als man von aussen sieht. Wir müssen von Neuem lernen, diese innere Kreativität zu entfesseln. Vielleicht braucht es dazu etwas Fiktion. Aber bitte lesen! Ein Netflix-Gelage ist, da Cloud-basiert, nicht nur extrem energieintensiv, schlimmer: Es verödet die eigene Vorstellungskraft. Im Gegensatz zum passiven Fernsehen trainiert Lesen den Imaginations-«Muskel». Der ist es, der Muskelkraft millionenfach multiplizieren kann.
Gibt es genug Ressourcen, genug Energie für den Menschen? Ja, denn die grösste Ressource ist der Mensch selbst. Es muss nur die Rahmenerzählung stimmen.
Jyoti Guptara ist Bestseller-Autor der «Calaspia»-Fantasyreihe
und Berater im Bereich Storytelling für Bildung und Business
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